Warum es im Haus der Geschichte Österreich kein Publikum, aber viele „Anspruchsgruppen“ gibt

Stefan Benedik, Eva Meran und Monika Sommer, hdgö – Haus der Geschichte Österreich
in: Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport, Sektion für Kunst und Kultur (Hg.): Fokus Publikum, Wien, 2023, 202–206.

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Die Art und Weise, wie eine Institution ihre Besu- cher*innen wahrnimmt und versteht, war für uns im hdgö – Haus der Geschichte Österreich von Anfang an eine zentrale Frage. Statt vom „Publikum“ zu sprechen, verwenden wir schon seit der Gründung des hdgö den Begriff „Anspruchsgruppen“, da dieser multidimensional in Bezug auf Kommunikation ist.

Das hdgö versteht sich als Dienstleistungseinrichtung an der und für die Gesellschaft und hinterfragt kontinuierlich die Bedürfnisse und Erwartungen verschiedener Interessensgruppen. Darum ist es uns Aufgabe und Ehre zugleich, das einzige Museum des Bundes mit einem gesetzlich festgeschriebenen Publikumsforum zu sein, das den strukturierten Austausch und die Zusammenarbeit mit gesellschaftlichen Gruppen vorsieht und fördert. Weiters suchen wir proaktiv den Dialog mit Vertreter*innen verschiedener Gruppen, um zu ergrün- den, was sie sich von einem Zeitgeschichtemuseum wie dem hdgö wünschen und wie sie sich im Museum repräsentiert sehen möchten. Dazu gehören unter anderem Lehrer*innen, Schüler*innen, Mitarbeiter*innen anderer Einrichtungen aus Bildung und Wissenschaft sowie unsere täglichen Besucher*innen – vor Ort und im Web.

Neben der im hdgö so zentralen Vermittlungsarbeit haben wir unsere Anspruchsgruppen seit Beginn aktiv in kuratorische Formate auch über digitale Formate eingebunden. Die Fragen, wer durch öffentliche Institutionen gehört, geteilt und repräsentiert wird und an diesen partizipieren darf, sind nicht mehr von der Legitimation von Kulturinstitutionen zu trennen. Das betrifft nicht nur Herausforderungen wie eine Verstärkung von diskriminierenden und marginalisierenden Strukturen durch Museen (aber auch durch z. B. Theater und Medien), sondern auch den gesellschaftlichen Wandel von einer Top-down-Kommunikation hin zu einer multidimensionalen Auseinandersetzung. Das Museum als Institution erlebt diesen Wandel, der seine traditionellen Entscheidungs- und Arbeitsstrukturen stark herausfordert. Als neu gegründete Institution versuchte das hdgö von Beginn an, ein partizipatives und inklusives Selbstverständnis zu leben.

Einer der kuratorischen Eckpunkte des hdgö war es daher, das Web als Museumsraum zu verstehen und es dazu zu nutzen, materielle Ausstellungen lebendig zu halten. Diese Ausstellungen stehen einerseits neben orientierenden Web-Angeboten (wie einem großen Lexikon
oder zahlreichen Web-Ausstellungen), die Besucher*innen stets auch einfache Möglichkeiten zu Kritik, Themenvorschlägen oder anderem Feedback geben. Andererseits verknüpft das hdgö die materiellen Ausstellungen mit solchen im Web, die ausschließlich User Generated Content (UGC) zeigen. In diesen Präsentationen ist die Rolle der Kurator*innen jene der Konzeption und Moderation – die Inhalte entstehen erst durch die User*innen, von denen die Objekte und Beschreibungen kommen. Das Potenzial von digitalen Medien wird hier ausgeschöpft, um eine einmal eröffnete Ausstellung dennoch dynamisch zu halten und Besucher*innen aktiv dazu einzuladen, in das Narrativ einzugreifen und die gezeigten Objekte um ihre eigenen zu ergänzen. Die dabei in einigen Fällen initiierten Diskussionen und Auseinandersetzungen gehen jedoch weit über das Beitragen eigener Objekte hinaus und sind Plattform für grundlegende wie visionäre Debatten um Gegenwart und Zukunft der Erinnerungskultur in Österreich.

Das Kriterium für Ein- oder Ausschluss von Beiträgen ist nicht die inhaltliche Einschätzung der Kurator*innen, sondern, ob die Beiträge sich auf das in eine kurze Frage gegossene Thema beziehen und rechtliche Bedingungen erfüllen. Die Erfahrung aus fünf Jahren hdgö zeigt: Es lohnt sich, gerade hier kontroversielle Debatten zu kanalisieren. Beispielsweise stellen wir so Ideen einer breiten Community zu einer fiktiven zukünftigen Nutzung des Altans der Neuen Burg aus (hdgoe.at/balkon) oder haben jüngst eine dynamische Landkarte veröffentlicht, die der Frage nachgeht, wie Erinnerungsorte mit Bezug zum Nationalsozialismus in ganz Österreich gestaltet werden könnten (hdgoe.at/erinnerung). Das Format solcher Ausstellungen zielt auf eine Verbreiterung und Demokratisierung von Debatten über Zeitgeschichte ab. Besucher*innen würdigen das damit, dass sie praktisch nur veröffentlichbare Beiträge zu diesen Web-Ausstellungen zum Mitmachen des hdgö (hdgoe.at/mitschreiben) hochladen. Wie sehr darin Engagement für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit komplexen Fragen sichtbar wird, spiegelt für uns als Museum auch den Auftrag, dieses breite Interesse an Beteiligung zu bündeln. Gemeinsam mit seiner Ausstellungsarbeit, dem Veranstaltungsprogramm, den vielfältigen Aktivitäten der Vermittlung und der Sammlung wurde das Haus der Geschichte Österreich damit zum Ort für Debatten darum, was Geschichte in der Gegenwart bedeutet und wie sie für die Zukunft produktiv gemacht werden kann.

Haus der Geschichte Österreich

Leitbild: hdgoe.at/museum
Vermittlung: https://hdgoe.at/vermittlung

Web-Ausstellungen zum Mitmachen: hdgoe.at/mitschreiben
Rolle der Öffentlichkeit im Aufbau der Sammlung: hdgoe.at/sammlung 

Entstehung und Entwicklung des Museums: hdgoe.at/category/vorgeschichte

Empfehlungen

  • schnittpunkt, Joachim Baur (Hg.): Das Museum der Zukunft. 43 neue Beiträge zur Diskussion über die Zukunft des Museums, Bielefeld 2020.

  • Stefan Benedik, Zuzanna Dziuban, Ljiljana Radonic (Hg.): Displaying Violence, Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften Bd. 34 Nr. 1, Wien 2023.