Der schwarz-weiße „Hitlerbalkon“: Ikone von NS-Propaganda und österreichischer Mitverantwortung

Stefan Benedik: Der schwarz-weiße „Hitlerbalkon“: Ikone von NS-Propaganda und österreichischer Mitverantwortung. In: Ingrid Böhler et al. (Hg.): Ver-störende Orte, Wien 2023, 115–137.

Die Erinnerung an die NS-Herrschaft in Österreich ist untrennbar mit dem Bild des Heldenplatzes verbunden, illustriert anhand von Fotografien vom 15. März 1938, die den Altan der Neuen Burg – genannt ‚Hitlerbalkon‘ – mit dem Platz gemeinsam zeigen. Dadurch, dass sie die Menschenmenge, nicht Adolf Hitler oder andere NS-Funktionäre, in den Mittelpunkt rücken, ermöglichen sie zwei gegensätzliche Erzählungen: jene einer ‚Volkserhebung‘ (die nationalsozialistische, positive Deutung) oder die der Mitverantwortung der Österreicher*innen an der NS-Herrschaft und ihren Verbrechen (die erinnerungspolitisch reflektierte, negative Deutung). Die Pionierin des Memory Turn in der österreichischen Zeitgeschichte, Heidemarie Uhl, hat die Funktion des Altans in gegenwärtigen Erinnerungsdebatten daher mündlich wiederholt als „Ikone der Mitverantwortung“ bezeichnet. 

In diesem Text kontextualisiere ich erstens die Propagandabilder des Jahres 1938 und behaupte, dass diese auch durch eine populärkulturelle, bottom-up entwickelte Verklärung zum Wendepunkt in der NS-Erinnerung Europas geworden sind. Ich argumentiere, dass der Altan der Neuen Burg zum ikonischen NS-Gedächtnisort werden konnte, nicht obwohl, sondern weil das Gebäude baulich gar nicht verändert wurde: In die imperiale Ikonographie der späten Habsburgermonarchie mit ihrer historisierenden Sendungserzählung konnte die Inszenierung des ‚Anschlusses‘ offensichtlich bruchlos eingereiht werden. Zweitens zeichne ich nach, wie der top-down-Charakter österreichischer Erinnerungspolitik und das unterentwickelte Repräsentationsrepertoire von Demokratie und Republik sich im öffentlich-medialen Sprechen durch Vorstellungen der Kontamination, durch Tabuisierung und Dämonisierung des Altan ausdrücken und schlage eine radikale Demokratisierung als Gegenmaßnahme vor.